Notfallversorgung wird in der Kammer intensiv diskutiert

DV-Bericht

Bericht von der Delegiertenversammlung am 5. Juli 2017

Das Thema Notfallversorgung hat die Juli-Sitzung der Delegiertenversammlung maßgeblich bestimmt. Der Krankenhausausschuss der Ärztekammer Berlin hatte dazu den Delegierten ein Diskussionspapier vorgelegt, in dem Überlegungen zur sektorübergreifenden Notfallversorgung in Berlin zusammengefasst waren. Dieses bot dann auch reichlich Diskussionsstoff. Gänzlich diskussionsfrei waren hingegen die Nachwahlen von Mitgliedern in der Haushaltskommission und in drei Weiterbildungsausschüssen. Diese erfolgten jeweils einstimmig.
Von Sascha Rudat

Zu Beginn der Sitzung begrüßte Kammerpräsident Günther Jonitz (Marburger Bund) das neue DV-Mitglied Klaus-Peter Spies. Er war für Svea Keller (beide Allianz Berliner Ärzte), die kürzlich von ihrem Amt zurückgetreten war, nachgerückt. Spies war schon einmal Mitglied der Delegiertenversammlung.
Im Anschluss ließ Jonitz den 120. Deutschen Ärztetag Revue passieren. Er hob dabei insbesondere die aktive Rolle der Berliner Delegierten in Freiburg hervor. Danach ging er auf das neue Berliner Heilberufekammergesetz ein, das wenige Tage zuvor den Berliner Senat passiert hatte. Dieses neue Gesetz wird das bisherige Berliner Kammergesetz und das Weiterbildungsgesetz ersetzen. Voraussichtlich im Herbst wird es durch das Abgeordnetenhaus gehen. BERLINER ÄRZTE wird in einer der nächsten Ausgaben darüber berichten.

Extrem belastetes System

Nachfolgend stellte der Vorsitzende des Krankenhausausschusses, Vorstandsmitglied Thomas Werner (Marburger Bund), das Thesenpapier zur sektorübergreifenden Notfallversorgung vor. Wie Werner einleitend erklärte, gehe es darum, einen Diskussionsprozess anzustoßen. Dabei habe man sich am Gutachten des AQUA-Instituts „Ambulante Notfallversorgung – Analyse und Handlungsempfehlungen“ aus dem Jahr 2016 orientiert. „Allerdings haben wir in Berlin eine ganz besondere Situation. Deshalb kann man hier Stellungnahmen für die Bundesebene nicht 1:1 umsetzen.“
Werner skizzierte dann die aktuelle Situation in der Hauptstadt. Es gebe einen enormen Ansturm auf die Rettungsstellen. So stieg die Zahl der Rettungswagenanfahrten im Jahr 2016 auf 318.600 gegenüber 305.210 im Vorjahr – ein Anstieg um rund 4 Prozent innerhalb eines Jahres also. Im Jahr 2012 hat es in Berlin insgesamt 1,2 Millionen Rettungsstellenpatienten gegeben – Tendenz weiter steigend. Im ambulanten Bereiche gehen beim ärztlichen Bereitschaftsdienst jährlich rund 300.000 Anrufe ein, 150.000 – 160.000 Hausbesuche folgen. Die Situation ist also dramatisch und verschärft sich weiter.
Als Lösungsansätze stellte Werner 8 Handlungsempfehlungen vor. Dazu gehörte die Einrichtung von Portalpraxen (integriert in die Rettungsstellen) mit dortiger Triage zur Steuerung der Patientenströme über klar definierte Zuständigkeiten von KV-Notdienst, Portalpraxen und Rettungsstellen bis hin zur Anpassung von Vergütungsregelungen. Vorgeschlagen wurde auch die Einrichtungen einer gemeinsamen Leitstelle von Feuerwehr und KV. Eine weitere Handlungsempfehlung war die Sicherstellung der Qualifikation der an der Notfallversorgung beteiligten Ärzte. Und nicht zuletzt sollte die Patientenaufklärung intensiviert werden, damit die Patienten im Notfall wissen, wohin sie sich sinnvollerweise wenden können. „Es heißt immer, Patienten kann man nicht umerziehen. Das sehen wir etwas anders“, betonte Werner.
Hitzige Diskussion

Die nachfolgende, lange und teils hitzige Diskussion zeigte, dass es sich bei der Notfallversorgung um eine höchst komplexe Problemlage handelt, auf die es zum Teil sehr unterschiedliche Sichtweisen gibt – nicht zuletzt abhängig von der Art der eigenen ärztlichen Tätigkeit. Wolfram Singendonk (Fraktion Gesundheit), niedergelassener Kinderarzt, nannte das Papier „sehr löblich“. Dabei sei das Problem uralt. „Wir haben seit 40 Jahren viel versucht, die Patientenströme zu regulieren.“ Er verwies darauf, dass viele Notfälle auch von den niedergelassenen Kollegen ambulant behandelt würden.
Christiane Wessel (Fraktion Gesundheit), niedergelassene Gynäkologin und Vorsitzende der Vertreterversammlung der KV Berlin, bezeichnete das Diskussionspapier als „sehr krankenhauslastig“. „Die ambulante Notfallversorgung geht aus unserem Topf und zwar unbudgetiert. Da sind wir natürlich nicht erfreut“, erklärte sie. Sie glaube nicht, dass man Patienten nicht umerziehen könne. Dies werde allerdings nicht durch Appelle gelingen. Sie verwies in diesem Zusammenhang auf die gestiegenen Patientenzahlen nach der Abschaffung der Praxisgebühr. Eine vorgeschlagene 24-Stunden-Öffnung der Portalpraxen hielt Wessel nicht für nötig. Aus ihrer Sicht bestehe in Berlin vielmehr eine Über- als eine Unterversorgung.
Stefan Hochfeld (Fraktion Gesundheit) bedankte sich für die Erarbeitung des Thesenpapiers. Er hielt vor allem das Thema Finanzierung für problematisch. „Wir können eine Notfallversorgung nicht aus den jetzigen Töpfen bezahlen. Da muss eine Zusatzfinanzierung her. Wir müssen da die Politik in die Pflicht nehmen“, zeigte er sich überzeugt.
Wenig begeistert von einigen Punkten des Papiers war der Hausarzt Wolfgang Kreischer. Er wünschte sich „weichere Formulierungen“, da sonst einige Forderungen schnell fixiert würden. Aus seiner Sicht werde den Patienten derzeit suggeriert, sie könnten alles jederzeit in Anspruch nehmen. Ein Teil der Inanspruchnahme entstehe dadurch, dass Patienten mangelhaft über die Versorgungsstrukturen aufgeklärt seien.
Vorstandsmitglied Werner Wyrwich (Marburger Bund), ebenfalls an dem Papier beteiligt, erläuterte die Notwendigkeit von Portalpraxen, die 24 Stunden geöffnet haben. „Die Inanspruchnahme erfolgt über den ganzen Zeitraum. Wir sprechen von einer Größenordnung, die erschreckend ist. Wie bekommt man in so einem System eine für den Patienten sinnvolle Versorgung?“
Kammerpräsident Jonitz sprach sich in diesem Zusammenhang dafür aus, zunächst eine umfassende und solide Zahlengrundlage zu schaffen. Für das Finden von Lösungen sei es notwendig, zu wissen, wann welche Patienten wo auflaufen.
Der niedergelassene HNO-Arzt Matthias Lohaus (Allianz Berliner Ärzte) machte seinem Unmut über das Papier des Krankenhausausschusses Luft. „Unter diesen Bedingungen zu erwarten, dass wir noch mehr machen, ist nicht akzeptabel“, betonte er. Das Papier greife zu stark in seine ärztliche Freiheit ein, monierte er.
Julian Veelken (Fraktion Gesundheit) zeigte sich überzeugt, dass es nicht mehr Geld für die Notfallversorgung geben werde, ein „dritter Topf“, der mit Mitteln aus dem ambulanten und stationären Sektor bestückt wird, aber zwingend notwendig sei. In Richtung Matthias Lohaus gewandt erklärte er, dass das Papier vor allem ein Mittel sei, um den ambulanten Bereich zu stärken. „Derjenige, der in die Rettungsstelle kommt, wird vom ambulanten Sektor gesehen. Der ambulante Sektor, der den Sicherstellungsauftrag hat, hat damit auch die Kompetenz, zu verhindern, dass aus dem ambulanten Sektor Geld in die Krankenhausrettungsstelle abfließt“, erläuterte er einen der Vorschläge aus dem Thesenpapier.
Vizepräsidentin Regine Held (Allianz Berliner Ärzte) sah hingegen keine Notwendigkeit für die Schaffung von Portalpraxen. Diese würden nur neue Patientenströme erzeugen. Es gebe ein gut funktionierendes ambulantes System. An erste Stelle gehöre für sie vielmehr die Patientenaufklärung, forderte sie.
Vorstandsmitglied Bernd Müller (Allianz Berliner Ärzte) fehlten Daten zur Zahl der Notfälle in den Praxen. Diese sollte noch als Grundlage für weitere Gespräche ermittelt werden. Insgesamt finde er das Papier auch „zu krankenhauslastig“, gleichzeitig begrüßte er die von Delegierten aller Listen geäußerte Bereitschaft, bei diesem Thema eng mit der KV Berlin zusammenzuarbeiten. Müller erklärte weiter, er sehe drei Gruppen von Notfällen: So gebe es die „echten“ Notfälle, dann die Fälle, die durchaus im niedergelassenen Bereich abgehandelt werden könnten sowie eine dritte Gruppe aus Bagatellfällen oder fehlgeleiteten Fällen. Um die letztgenannte Gruppe zu reduzieren, plädierte Müller für die Einführung einer sozialverträglichen Behandlungsgebühr beim Eintritt in das Notfallsystem, auch wenn dies nicht populär sei. Einen entsprechenden Antrag hatten er und drei weitere Berliner Delegierte bereits auf dem Deutschen Ärztetag eingereicht.
Die Gemüter etwas zu beruhigen, versuchte dann Eva Müller-Dannecker (Fraktion Gesundheit): „Wir sind alle in einer Situation, wo es nicht einfach ist.“ Die Notfallversorgung betreffe nicht nur die KV, sondern gleichermaßen die Krankenhäuser. „Wir in den Kliniken wollen uns nicht die Bagatellfälle an Land ziehen. Damit verdienen wir nichts“, erklärte sie und zeigte sich überzeugt, dass es wahrscheinlich nur mit einem dritten Finanzierungstopf für die Notfallversorgung gehen werde.
Referent Thomas Werner betonte abschließend, dass sich die Ärztekammer an der Diskussion um eine bessere Notfallversorgung weiterhin beteiligen und zusammen mit der KV nach Lösungen suchen sollte. Diesem Appell schlossen sich weitere Delegierte an. Das Thema bleibt also spannend.